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Tagebuch III: 100 Tage Lockdown

  • Beitrags-Kategorie:"Corona"-Tagebücher
  • Lesedauer:30 min Lesezeit

30. April – 23. Juni 2020; Guatemala: San Felipe, Lago de Izabal

Könnt ihr euch vorstellen wie es ist 100 Tage an einem Ort festzuhängen? In einem Land, das ihr bislang nur oberflächlich kennt? Dessen Sprache ihr nur magelhaft beherrscht? Wo Notstandsgesetze, offizielle Maßnahmen und inoffizielle Regelungen schneller wechseln, als du mit deinen Unterhosen hinterherkommst? Nein?! Wir eigentlich auch nicht… Und trotzdem gehören die 100 Tage, die wir in Guatemala im Lockdown verbracht haben, vermutlich zu den lehrreichsten, spannendsten und emotional aufwühlendsten Tagen unserer bisherigen Reise. Mal im eher negativen, meistens aber im besten Sinne!

Tag 46: Oh man, ich hasse es gleich den ersten Tag negativ zu beginnen… aber was für eine Scheiße ist da eigentlich passiert! Die funkelnagelneue, super geile Wasserpumpe funktioniert nicht bei der Tiefe des Wasserpegels im Brunen. Wie sich herausstellt, haben die Herren diesen geschätzt – und nicht nachgemessen! Als alles fertig installiert ist, wird die Pumpe ausprobiert und es kommt absolut kein Wasser in den Tanks oben an – dafür bräuchte es eine versenkbare Version. Egal, dachten wir alle gesten noch und dann heute der nächste Frust: umtauschen ist nicht! Die Pumpe wurde benutzt, demnach kann sie der Laden nicht mehr verkaufen. Wir haben jetzt ein Gerät im Wert von 250€, das völlig unbrauchbar in Marios Schuppen rumsteht. Es wurden zwar einige Notlösungen und Kompromisse diskutiert, aber wir bestehen jetzt erst einmal auf eine Pause, bis wir eine ordentliche Lösung gefunden haben. Lebenslanges Lernen, sag ich euch, lebenslanges Lernen…


Tag 47: Problem Wasserpumpe vorerst mal beiseite geschoben: beim heutigen Friday-Dinner mit Paul gibt´s (fast) echt amerikanisches BBQ: Flanksteak mit Baked Potatoes und Coleslaw – „a nice little treat“ um Paul zu zitieren :-). Apropos Nordamerika: wir fangen zurzeit an ein bisschen über Alternativen nachzudenken und überlegen uns nach Kanada zu reisen. Die Vorteile: kurze Flugzeit, der Import vom Hund ist einfach und wir könnten dort Sommerurlaub machen, bis im Herbst die Grenzen hier hoffentlich wieder offen sind. Voraussetzung natürlich: Kanada müsste uns erlauben einzureisen.[1]


Tag 48: Heute sind wir zum ersten mal wieder mit dem Bus nach Rio Dulce gefahren, seit es die Straßenblockade in San Felipe gibt. Entgegen der Befürchtungen unserer Freunde aus San Felipe war es überhaupt kein Problem wieder rein gelassen zu werden. Gutes Gefühl selbstständig die 4 km zum Einkaufen zu fahren.


Tag 51: Über eine Freundin haben die Videocreater von Zettnett von unserer Situation erfahren und uns gefragt, ob wir bei ihrem Filmprojekt „Connected Quarantine“ mitmachen wollen. Wir haben uns die ersten Videos angeschaut und finden die Idee irgendwie cool, es ist echt spannend zu sehen wie Menschen aus aller Welt mit der momentanen Situation umgehen. Wir werden also die nächsten Tage immer wieder kurze Clips aus unserem Alltag aufnehmen und Zettnett wird daraus dann einen kleinen Film machen. Mal schauen wie es wird, ist auf jeden Fall eine willkommene Abwechslung!

Tag 52: Hay Agua, Himmel, Arsch und Zwirn. Es konnte endlich ein Techniker aufgetrieben werden, der wirklich Ahnung hat von dem was er tut! Der gute Mann hat die bereits bestehende (!) tauchfähige Wasserpumpe repariert und plötzlich konnten beide Tanks innerhalb von 60 Minuten befüllt werden. Wir freuen uns zwar wirklich, sind aber auch etwas genervt und frustriert: dass es vor Ort bereits eine passende Wasserpumpe gibt, die zwar kaputt, aber eben reparierbar ist, haben wir erst die letzten Tage erfahren. Da war die Sprachbarriere und vielleicht auch der Wunsch nach einer neuen Pumpe doch etwas zu groß. Im Endeffekt ist es aber auch egal… wegen der anderen Pumpe fällt uns schon was ein und das wichtigstes ist: die Trinkwasserversorgung steht!


Tag 55: Wow, jetzt ist sie also da, die Regenzeit und mit ihr das erste tropische Gewitter! Zuerst denken wir noch, Mario übertreibt mit seiner Warnung „muy fuerte“ ein bisschen. Fünf Minuten später sind wir froh, dass wir ihm dann doch Glauben geschenkt haben. Ich bin schlecht im Windgeschwindigkeiten schätzen, aber der Regen steht waagrecht, der Wind peitscht uns um die Ohren und es gibt so viele Blitze, dass wir mit Zählen nicht mehr hinterherkommen. Wir verkriechen uns so schnell es geht in die Küche, verammeln alle Fenster, machen uns ne schöne Flasche Wein auf und beobachten das Spektaktel – das ist echt eine Lichtershow der besonderen Art.


Tag 56: Nach dem gestrigen Gewitter haben wir insgesamt 25 Stunden lang keine Elekrizität! Und nur gelegentlich Wasser. Da merkt man dann doch wieder, wie gut es uns in Deutschland geht… man stelle sich vor was passiert, wenn ein ganzer Ort über einen Tag lang keinen Strom und Wasser hätte. Aufstand?! Dann brächte einem ja auch das ganze schöne Klopapier nichts mehr ;-).


Tag 59: Offensichtlich macht man nach so langer Zeit im Lockdown manchmal Dinge, die man davor für unmöglich hält! Negativ ausgedrückt könnte man sagen, der ineinander übergleitende Alltag sorgt dafür, dass man sich nach Abwechslung sehnt… positiv formuliert vielleicht: hängt man so lange zu zweit aufeinander, ist in der wohl außergewöhnlichsten Situation seines Lebens, musste noch nie mit so vielen Unsicherheiten umgehen und geht sich trotzdem nicht auf den Sack, wird es langsam mal Zeit. Also hab ich Benny heute einfach gefragt. Ob er mich heiratet. Benny hat gelacht… sehr lange gelacht. Aber schließlich ja gesagt!

Tag 60-61: Keine guten Neuigkeiten aus Guatemala und vor allem Mexiko. Natürlich wird es nicht offiziell ausgesprochen, aber es sieht so aus, als hätte die Regierung mehr oder weniger aufgegeben und setzt auf Herdenimmunität. Die Krankenhäuser kapitulieren, in Guatemala Stadt werden die Menschen jetzt auf Parkplätzen behandelt oder wieder weg geschickt. Zudem sind die Verschärfungen hier heftig: ab nächstem Wochenende gibt es eine komplette Ausgangssperre, die zum Lockdown zwischen 16 Uhr nachmittags und 05 Uhr morgens hinzukommt.

Die letzte Zeit telefonieren wir viel mit unseren Leuten Zuhause. Das ist total schön, sorgt aber auch dafür, dass wir manchmal ein bisschen Heimweh bekommen. So ein gemütliches Zusammensitzen wäre schon was feines und fehlt uns sehr… gerade jetzt!


Tag 62: Was versuchen die meisten Menschen im Urlaub oder auf Reisen zu vermeiden? Zum Arzt zu gehen. Wenn man schon zum Arzt muss, zu welchem will man auf gar keinen Fall? Ganz genau, Zahnarzt! Ist zumindest bei mir so. Unglücklicherweise sieht es danach aus, als ob mir diese einizigartige Erfahrung nicht erspart bleibt: beim Zähneputzen ist mir heute eine Zahnfüllung rausgefallen. Kurz überlege ich mir es einfach zu ignorieren, ab jetzt nicht mehr Zähne zu putzen und nur noch Suppe zu essen… Spätestens beim Mittagssnack bestehend aus Guacamole und Nachos gebe ich jedoch auf. Jetzt heißt es also zu Coronazeiten in Guatemala eine Zahnarztpraxis zu finden (die Garagen, die ich bis dato gesehen habe erfüllen mich ein wenig mit Schrecken). Ich bin entzückt… NICHT!


Tag 64: Heute ist Partytime! Naja, oder so ähnlich… wir fahren gemeinsam nach Jocolo, um das neue Trinkwassersystem einzuweihen. Von Mario haben wir uns bei der Partyplanung beraten lassen und diesen Vorstellungen entsprechend eingekauft: es gibt für alle einen Keks, für die Kinder nen Saft und die Erwachsenen bekommen eine Pepsi (in Guatemala auch liebevoll „Agua“ genannt, was den Stellenwert dieses Zuckerwassers ganz gut beschreibt). Zudem ist ein Prediger engagiert und ein Eintrag ins „goldene“ Buch der Stadt vorgesehen. Zugegeben, am Anfang ist uns der ganze Trubel schon etwas unangenehm, aber als wir eigens angefertigte Diplome mit unserem Namen und allen möglichen Stempeln bekommen, sind wir dann doch gerührt. Ganz Jocolo hat sich bei der Schule versammelt, die Kids sind völlig aus dem Häuschen wegen der kleinen Tetra Packs und wir bekommen ein weiteres mal eine köstliche Caldo de Pollo serviert (langsam grenzt es an ein Wunder, dass in Jocolo noch Hühner rumlaufen).

Abends feiern wir dann unsere Version von Party :-). Wir haben heute auch die letzten Videos für das Projekt „Connected Quarantine“ abgeschickt – hat tatsächlich Spaß gemacht, auch wenn das bewegte Bild wirklich nicht unser Metier ist. Somit sind zwei Projekte abgeschlossen! Ist ne coole Sache und trotzdem stellt sich damit auch die Frage: was kommt jetzt?


Tag 66: Kleines „Zahn-Update“: Dank der super vielen Yachten, die hier während der Hurricane-Saison mitsamt ihren gut betuchten Besitzer*innen „überwintern“, finde ich tatsächlich eine sehr gute Praxis für das Zahnproblem. Nicht so gut: es muss ne Krone her. Ich überlege eine ganze Weile hin und her, ob es nicht auch ein Provisorium tut. Da aber eine Krone in Guatemala immer noch weniger kostet, als die Zuzahlung zu einer selbigen bei der Kostenübernahme durch die deutsche Krankenversicherung, entschließe ich mich schlussendlich das Ganze hinter mich zu bringen. So richtig langweilig wird´s dann irgendwie doch selten…


Tag 67-69: Vorm Wochenende steht der übliche Großeinkauf an, bevor wieder alles dicht macht. Im Zuge dessen bringen wir mehrere Kilo Lebensmittel beim Zirkus in Rio Dulce vorbei – die Menschen sind schon in einer extremen Situation, aber gleichzeitig unfassbar nett und nehmen alles, so hat es zumindest den Anschein, mit einer stoischen Gelassenheit an… beeindruckend! Ich hingegen werde innerlich immer unruhiger. Während ich an unserem letzten Reisekapitel (über Guatemala) schreibe, frage ich mich die ganze Zeit, was danach kommt. Wann hört dieses dämliche Tagebuchgeschreibe auf und ich kann mal wieder was wirklich spannendes berichten? Wir gehen häufig früh ins Bett und fühlen uns total platt – von was, fragen wir uns? Außerdem erwische ich mich dabei, so Sachen zu notieren wie „zum Glück haben wir Zora, sie ist unser Sonnenschein“ – meine Güte, wer schreibt denn sowas?!

Auf der Habenseite steht, dass das Video von Zettnett fertig ist und abgesehen davon, dass es ganz seltsam ist, sich selbst zu sehen und zu hören, haben die Mädels und Jungs echt nen guten Job gemacht. Danke Euch!


Tag 70: Neueste Ankündigung des Präsidenten: alles bleibt gleich! Oder wird verschärft! Aber vielleicht auch nicht! Naja, was soll man dazu groß sagen…

Tag 74: Hmm, Benny ist krank. Fieber, Gliederschmerzen, Durchfall, Halsweh – Corona?


Tag 75: Heute gibt es eine kleine Anekdote, um den Umgang mit Corona in San Felipe und der hiesigen Polizei zu veranschaulichen. Nachmittags beobachtet unser Nachbar Paul, wie die Polizei die kleine Stichstraße an seinem Haus runter zum See fährt. Dort liegen die ganzen Fischerboote vor Anker und es gibt einen kleinen Wellblechschuppen, wo Fisch geputzt wird. Paul ist sich ziemlich sicher, dass es nun gewaltigen Ärger gibt, da zum einen bereits Ausgangssperre herrscht und sich zum anderen kein Mensch an die Maskenpflicht hält. Und tatsächlich, die Polizei ist lange vor Ort und scheint zu diskutieren. Besorgt erkundigt sich Paul am nächsten Tag bei seiner Nachbarin, wer alles einen Strafzettel erhalten hat und wie die Leute das bezahlen wollen. Die schaut ihn ganz verwundert an, lacht und meint bloß: „wieso Strafzettel? Die Polizei hat doch nur Fisch gekauft“!

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ute & Ralph

    Bin gerade über einen FB-Kommentar auf eure Seite gestoßen und habe eure 3 Tagebücher gelesen. Funde es super, was ihr da mit eurer Spendenaktion auf die Beine gestellt und geleistet habt. Chapeau!

    In vielen eurer Gedanken habe ich unsere eigenen wiedergefunden. Obwohl wir teilweise mit völlig unterschiedlichen Vorraussetzungen zu tun haben (z. B. beide 62 Jahre (also Risikogruppe), wir im patagonischen Winter) sehe ich auch einige Gemeinsamkeiten (z. B. Sprachbarrieren, die Frage, was sinnvoller ist: bleiben oder in die Heimat).
    Wir sind jetzt den 127. Tag im argentinischen Lockdown; davon 124 an unserem aktuellen Stellplatz etwas außerhalb des Zentrums von San Martín de los Andes. Es gibt zwar inzwischen hier auch einige Lockerungen, aber auch hier ist privates Reisen noch verboten und so hängen wir fest. Nachdem wir erst gedacht haben, wir sitzen das hier aus (haben nicht damit gerechnet, dass es hier noch so schlimm wird, da der Lockdown schon bei irgendwas um die 100 Infizierten ausgesprochen wurde und die Zahlen bis Ende Juni relativ mäßig waren), kommt inzwischen doch immer wieder der Gedanke auf, das TIP zu unterbrechen und von Buenos Aires nach Hause zu fliegen. Wir werden sehen, was die nächsten Tage und Wochen bringen.
    Unsere Reiseberichte und unser „Corona-Tagebuch“ findet ihr in unserem Blog.
    LG und alles Gute … Ute & Ralph

    1. Lena & Benny

      Liebe Ute, lieber Ralph,

      vielen Dank für Eure ermutigenden Worte! Tatsächlich war es auch für uns eine große Bereicherung und wir sind super froh, dass wir in dieser Zeit eine sinnvolle Aufgabe hatten.
      Auch können wir gut nachvollziehen, dass ihr über einen Break nachdenkt – wir sind auch grad am überlegen, wie und wo es für uns weitergeht… ich habe Euer Corona-Tagebuch gelesen und mich auch in vielen Eurer Beschreibungen wiedergefunden (besonders wenn sich ein Tag dem anderen gleicht und es nicht wirklich etwas Neues gibt). Aber dafür klingt die Gemeinschaft die ihr an eurem Platz gefunden habt sehr schön! Wir wünschen Euch auf jeden Fall ganz viel Erfolg bei der Entscheidungsfindung und Umsetzung.

      Liebe Grüße aus Mexiko nach Argentienien und bleibt gesund!
      Lena und Benny

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